Angefangen hatte das Ganze beim Abendessen. Wie üblich. Ich wollte reden und Missverständnisse klären, Alfons wollte seine Ruhe haben. Aber ich wollte keine Ruhe, sondern über unsere (verkorkste) Beziehung sprechen. Weiber, zischte Alfons, alle wollen immer über Beziehungen reden. Über Beziehungen redet man nicht, sondern lebt sie. Ich wollte gerade zur Antwort anheben...
als er aufstand, zur Stereoanlage ging und Musik andrehte. Sehr laut. So laut, dass sie meine Stimme übertönte. In mir kochte es. Dann stand ich auch auf und bewegte mich gemächlichen Schrittes in Richtung Stereoanlage. Wenn du die Musik ausschaltest, fängst du eine, sagte Alfons. Ich warf ihm lediglich einen verächtlichen Blick zu, und drückte auf den Schaltknopf.
Peng!
Alfons drehte die Musik wieder an. Ich drehte sie wieder aus.
Peng!
Alfons drehte die Musik wieder an. Ich drehte sie wieder aus.
Schlag doch zu, sagte ich zu Alfons, der vor Wut zitternd vor mir stand und gerade im Begriff war, zur dritten Ohrfeige auszuholen. Ja, schlag mich doch am besten tot, schrie ich. Dann ist endlich Ruhe! Er ließ seine Hand sinken.
Sie sprechen verschiedene Sprachen, sagte zwei Wochen später ein großer schlanker Mann, so um die vierzig. Er saß Alfons und mir gegenüber und lächelte einen nach dem anderen feinsinnig an. Sie reden und reden und jeder von Ihnen denkt, der andere würde ihn verstehen. Das ist aber nicht der Fall. In der halben Stunde, in der Sie hier sind, korrigiert jeder von Ihnen unentwegt, was der andere gerade gesagt hat ...
Verblüfft schaute ich den Mann an. Er war Psychologe, und angeblich ein sehr guter. Freunde hatten ihn empfohlen. Das war, nachdem ich gesagt hatte: Einer von uns beiden liegt irgendwann tot in der Wohnung. Entweder ich oder Alfons.
Und nun saßen wir hier und hofften auf eine Lösung. Hofften darauf, dass irgendeine gute Fee ihren Zauberstab hob, und wir von da an das gemeinsame Glück gepachtet hätten. Doch der Psychologe machte mit wenigen Worten unsere Hoffnung zu nichte.
Mir saßen schon viele Paare gegenüber, sagte er, aber zwei Menschen, die derart unterschiedlich denken und fühlen, sind mir noch nicht unter gekommen. Er grinste. Mir war das Grinsen längst vergangen. Auch Alfons schaute nicht zufrieden drein. Es musste doch eine Lösung geben. Schließlich liebten wir uns, und das sagten wir dem Mann zum wiederholten Mal.
Ach, meinte der lakonisch, Liebe ... sinnierend schaute er aus dem Fenster. Liebe ... ich denke nicht, dass Sie beide sich lieben. Vielleicht haben Sie ja guten Sex miteinander ... aber guter Sex ist keine Liebe. Wird allerdings oft damit verwechselt.
Was sollen wir denn jetzt tun? wollte Alfons wissen. Und ausnahmsweise nahm er mir mal das Wort aus dem Mund. Der Fachmann grinste erneut irgendwie schien er Spaß an uns beiden zu haben.
Es gibt allerdings eine Möglichkeit, meinte er dann, nachdem er wieder eine Weile aus dem Fenster geschaut hatte. Gespannt und ungeduldig schaute ich den Mann an. Sie müssen lernen, dieselbe Sprache zu sprechen. Jetzt lächelte er, wohlwissend, dass weder Alfons noch ich verstanden hatten, wie er das meinte.
Und wie geht das? wollte Alfons wissen. Tja, sagte der Mann, das ist einerseits ganz einfach und andererseits sehr schwierig. Ich verstand schon wieder nichts. Der Therapeut und ich schienen ebenfalls unterschiedliche Sprachen zu sprechen...
Langer Rede kurzer Sinn: der Fachmann empfahl uns eine Art Gruppentherapie. Elternaustreibung nenne ich diese eine Woche rückblickend. Innerhalb einer Schar Gleichgesinnter, also Menschen, die ähnliche Probleme hatten wie Alfons und ich, lernten wir mit Hilfe einiger Psychologen, die Schutzmauer, die wir im Laufe der Jahre aufgebaut hatten, wieder einzureißen. Und zum Vorschein kamen viele verletzte kleine Seelen verletzt durch Vater und Mutter. Jeder auf seine eigene spezielle Art. In der Gruppe befanden sich ungefähr dreißig Personen. Männer und Frauen, gut durchmischt. Auch altersmäßig. Drei davon also zehn Prozent waren als Kind missbraucht worden. Von Verwandten. Ein Mann sogar von seinem eigenen Vater.
Was für Schicksale während dieser wenigen Tagen vor uns ausgebreitet wurden, möchte ich hier gar nicht erzählen. Fassungslos und mit Tränen des Mitgefühls saß ich oft da, während die anderen von Schlägen, seelischen und körperlichen Misshandlungen berichteten. Aber ich selbst kam auch an die Reihe. Und dabei tauchten Jahrzehnte zurückliegende Erlebnisse wie böse Gespenster plötzlich aus der Versenkung auf. Die Angst vor meinem Vater, die über viele Jahre hinweg wie ein Damoklesschwert über mir gehangen hatte. So viele Jahre, in denen ich ständig damit gerechnet hatte, dass das scharfe Eisen mir den Kopf spalten würde.
Aber ich begriff auch, dass ich einen subtilen Groll gegen meine Mutter hegte. Wir sollten einen sogenannten Hassbrief schreiben. Ich war vollkommen ratlos. Wie sollte ich der Frau, die ich so sehr geliebt hatte, einen hasserfüllten Brief schreiben können. Was sollte ich ihr denn vorwerfen können? Setz dich einfach hin und schreib, sagte die Psychologin, die meine kleine Untergruppe betreute.
Ich tat, was mir befohlen wurde und setzte mich an den Schreibtisch in meinem Hotelzimmer. Und ich kann es heute noch kaum glauben es dauerte keine fünf Minuten, und schon stand wie von Zauberhand geschrieben auf dem Papier, was ich meiner Mutter vorzuwerfen hatte: sie hatte mir nicht beigebracht, dass Frausein auch schön sein kann. Ich hatte meine Mutter nämlich nur leidend erlebt. Wort- und klaglos zwar, aber selbstverständlich hatte ich deutlich mitgekriegt, wie sehr sie unter den Attacken und Respektlosigkeiten meines Vater litt. Ständig - bis zu ihrem Ende. So sollte mein Leben nicht verlaufen! Heiraten, Kinder kriegen, Haushalt führen nein, das kam für mich nicht in Frage. Nie im Leben würde ich mich unter die Knute eines Mannes begeben, von seinem Geld und seinem Wohlwollen abhängig sein.
Während ich Blatt für Blatt füllte, wurde mir plötzlich bewusst, wie sehr all diese Erfahrungen den Verlauf meines Lebens geprägt hatten. Und er war nicht durch vom Verstand gefällten Entscheidungen geprägt. Nein, der Verlauf meines Lebens war von Gefühlen regiert. Eine Aneinanderreihung hilfloser Schutzreaktionen sozusagen. Mir sollte man nicht so weh tun wie meiner geliebten Mutter.
Und dann wurde mir plötzlich noch bewusst, dass ich gern Kinder gehabt hätte. Du wärst eine gute Mutter, hatte mein Bruder immer wieder zu mir gesagt. Nein, hatte ich jedes Mal geantwortet, fest davon überzeugt, Recht zu haben. Doch nun, während ich an diesem fremden Schreibtisch den Hassbrief schrieb, wurde ich von einer tiefen Melancholie überfallen. Ja, ich wäre vermutlich doch eine gute Mutter gewesen. Aber ich hatte mich anders entschieden. Meine Angst vor Abhängigkeit hatte anders entschieden besser gesagt.
Tränen liefen mir übers Gesicht und tropften aufs Papier.
(Fortsetzung folgt)
Diesen Beitrag gibt es auch als Podcast.