Nein, ich habe kein Kindheitstrauma erlebt. Meine Eltern waren weder asozial, noch Schläger, noch Borderliner. Meine Kindheit war, verglichen mit vielen anderen, fast "banal normal" ohne grössere Dramatik. Ich konnte mich frei entwickeln und wurde nicht gebremst oder eingeengt. Auch viele Jugendkrisen blieben mir erspart. Im frühen Erwachsenenalter verstand ich mich zeitweise sogar sehr gut mit meinen Eltern - sofern ich sie in den Semesterferien mal besuchen kam. Nun hat sich das Blatt aber entschieden gewendet.
Ich bin vor kurzem 30 geworden, besitze zwei Hochschulabschlüsse mit Bestnoten und suche seit nunmehr zweieinhalb Jahren leider erfolglos nach einer adäquaten Festanstellung. Meine Eltern sind beide Akademiker, die ihr Leben in einer geruhsamen Lebensstellung ohne jede Existenzangst verbracht haben. Ihre Rente beträgt um ein Wesentliches mehr, als ich in einer sehr erfolgreichen Selbständigkeit verdienen könnte.
Seit ich 27 bin, tyrannisieren mich meine Eltern mit meiner Jobsituation. Ihr Horizont reicht leider nicht aus, um zu verstehen, dass man heutzutage ungewollt arbeitssuchend sein kann - sie schieben es auf meine angebliche Initiativelosigkeit. Da man mir vieles vorwerfen kann, aber das gerade nicht, werde ich regelmässig cholerisch, wenn solche Anschuldigungen laut werden.
Hinzukommt, dass meine Eltern mich als Versagerin abstempeln, die es eben im Leben nicht schafft. Der Höhepunkt war, dass sie mich gleich nach der Promotion psychoterrorisieren wollten, weil ich noch kein Juniorprofessor bin(!). Als ich ihnen klarmachte, dass es ungefähr zwei Juniorprofessuren pro Jahr in ganz Deutschland in meinem Fachgebiet gibt und dass diese, wie so oft im öffentlichen Dienst, nur pro forma ausgeschrieben und intern schon vergeben seien, bevor die Bewerbungsverfahren überhaupt ihren Lauf nehmen, regten sie sich nur auf. Da meine Bewerbungen fruchtlos waren, musste ich mich, ohne jede finanzielle Unterstützung, selbständig machen. Daraufhin lamentierten sie rum, Cousin XY habe mit seiner Selbständigkeit aber nach einem halben Jahr schon Luxusreisen nach Südafrika finanziert, warum ich das nicht auch könne?
Meine Mutter insbesondere - pensionierte Rektorin - entwickelt sich zu einem unereträglichen Ekel. Bei Telefonaten fragt sie lauernd, was ich denn so tagsüber täte (sprich, ob ich faule Person nicht beschäftigungslos in der Hängematte liege). Als mir neulich der Kragen platzte und ich sie darauf hinwies, dass ich den ganzen Tag lang - jeden Tag! - hart und unter schlimmsten Konkurrenzbedingungen arbeiten muss, um einen Bruchteil ihrer Rente zu erwirtschaften, war sie höchst eingeschnappt. Die unverschämten Spitzen und persönlichkeitsabwertenden Unterstellungen kommen jedoch immer wieder. Für meine Eltern ist der Fall klar: die im Studium so erfolgreiche Tochter, mit der sie renommieren konnten, ist tot und eine peinliche Versagerin geworden, eine Art Hausfrau mit Nebenjob. Der Schrecken für alle Karriereeltern.
Ich halte diesen Psychoterror nicht mehr aus. Ich will den Kontakt schon gänzlich abbrechen.