Sicher toll - aber so oft auch Grund zur Sorge...
Ich habe eine Tochter, 10, auf deren Kleinkinderzeit all das haargenau paßt, was Du über Deinen kleinen Sohn schreibst!! Und ich glaube, in Deinen Fragen jede einzelne meiner eigenen zwiespältigen Gefühle wiederzuerkennen... Einerseits der Stolz auf dieses vorsichtige, vernünftige und ruhig alles beobachtende Kind, das allseits als überaus "wohlerzogenes" Kind beliebt ist, und mit dem man so prima reden kann. Andererseits aber... zu allem, was Du schon an beunruhigenden Fragen aufgeworfen hast, kommt bei mir noch hinzu, daß ich manchmal eine Gänsehaut bekomme, weil ich an meinem Kind so überaus deutlich meine eigenen Verhaltensweisen von vor nunmehr über 40 Jahren vorgeführt bekomme. Auch ich war so ein stilles, "wohlerzogenes" Kind, beherrscht, mitfühlend, und auch ich konnte nicht schlafen, wenn die anderen so gemein zueinander waren. Wie mein Kind hatte ich hinter meiner ruhigen Fassade auch ständig die Angst, daß die anderen über mich herfallen werden, da ich mich auch nie wehren konnte... (was sie übrigens nie taten. Im Gegenteil - ich wurde Klassensprecherin... und meine Tochter jetzt auch! Trotzdem zitterte ich innerlich immer weiter...)
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich mit 6 Jahren einmal selbst fragte, was mich eigentlich mehr verschreckt: die Bedrohung durch die anderen "wilden", rücksichtslosen und manchmal auch grausam gemeinen anderen Kinder - oder die unerbittlichen, mit aller Härte gestellten Forderungen meines Vaters, mich jetzt ENDLICH durchzusetzen und zu WEHREN, wenn die anderen mich übervorteilen!! Heute weiß ich genau, wie er sich damals als junger Vater gefühlt haben muß - und sitze in der Zwickmühle: Ich mache mir einerseits Sorgen, muß aber andererseits höllisch aufpassen, wie ich damit meiner Tochter gegenüber umgehe! Denn ich weiß ja, wie damals die Geschichte zwischen mir und meinem Vater ausging: ich erzählte ihm GAR NICHTS mehr von meinen Ängsten und lernte stattdessen blitzschnell, eine umso fröhlichere und gleichmütigere Miene zur Schau zu stellen, je schlechter und verängstigter ich drauf war... nun bin ich natürlich selbst mißtrauisch, wenn meine Tochter allzu fröhlich wirkt - ist DAS nicht bescheuert?!!??
Aber ich will Dir keine unnötige Angst machen - im Gegenteil: Ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig für solche Kinder, daß ihre Mütter einen Blick dafür haben, daß diese überaus pflegeleichte und störungsfreie Harmonie, die man mit ihnen erlebt - (und um die einen die anderen Mütter ja so oft so glühend beneiden!!) - keineswegs so unproblematisch ist wie alle denken; daß sie keinen Deut weniger Erziehungsprobleme mit sich bringt - sondern einfach nur VÖLLIG ANDERE als bei "normalen" Kindern...
Natürlich möchte ich der Schreiberin der ersten Antwort insofern Recht geben, als ich meine Tochter auch so oft als ein richtiges Gottesgeschenk erlebe: Ich genieße es und bin über die Maßen froh und dankbar, daß sie so ruhig, vernünftig, feinfühlig, gerechtigkeitsliebend, beherrscht und alles ist. Man konnte schon so früh so prima kleine Gespräche mit ihr führen, die sie so ernst nahm, daß sich fast die gesamte Erziehung darüber abwickeln ließ - sehr selten nur mußte ich Grenzen ziehen oder laut werden oder sie mit Verboten frustrieren, da sie jede Erklärung verständnisvoll aufnahm. Ich bin dankbar, daß mein Kind humorvoll ist - aber ich kann keinem beschreiben, was ich im Verlauf der Jahre darüber empfinde, daß dieses Kind niemals Witze auf Kosten anderer macht... das darf bei allem nicht vergessen werden! Diese vielen positiven Seiten auch zu genießen, hilft mir persönlich am meisten, locker zu bleiben bzw. mich nach einem Sorgen-Anfall wieder zu entkrampfen!
Deine Frage ist nun schon viele Monate alt. Hast Du inzwischen Neues herausgefunden? Ich nur, daß Hypoaktivität inzwischen als eine Sonderform des ADS Syndroms gilt. Weiß nicht, wohin die Spur führt. Vor 15 Jahren war davon noch nicht in dem Maße die Rede. Bei meinen damaligen Recherchen (damals ging es mir um meinen kleinen Halbbruder, der ebenfalls sehr auffällig in dieser Richtung war) stieß ich noch auf Theorien, daß bei Kindern mit auffällger "Minussymptomatik" möglicherweise eine unterschwellige Form von Autismus vorliegen könne... Das fand ich insofern interessant, als tatsächlich sowohl ich, als auch mein Halbbruder und meine Tochter es als Kleinkinder auf den Tod nicht leiden konnten, in die Luft geworfen zu werden. "Normale" Kinder quietschen darüber vor Vergnügen - und kleine Autisten werden halb wahnsinnig vor Entsetzen...
Naja, mein Halbbruder ist inzwischen ein stiller, prima junger Kerl, der gerade über seinem Abi brütet; und auch bei mir sind nach 44 Jahren keinerlei Diagnosen in Richtung Autismus oder Schizophrenie fällig geworden. Für Dein und mein Kind erwarte ich ebenfalls nichts in diese Richtung. Trotzdem finde ich das Ganze irgendwie spannend - denn durch meine familiäre Häufung dieser Eigenschaften glaube ich inzwischen doch, daß da vielleicht irgendwas genetisches mit am Werk ist...
Natürlich widerspreche ich nicht meiner esoterisch angehauchten Nachbarin, die Stein und Bein schwört, meine Tochter sei die Wiedergeburt einer "uralten Seele" voller Weisheit und Mitgefühl. Und erst recht nicht den ganzen Lehrerinnen, die mich für die absolute Supermutter halten, weil mein Kind ja soooo wohlerzogen ist!! :o)
Wie ist es bei Dir? Warst Du auch als Kind so? Oder ein Geschwister von Dir? Oder bei Deinem Mann? Irgendjemand noch in der Familie, der vielleicht keine so scharf beobachtende Mutter wie Dich hatte, und wo "es" deshalb nie groß zur Sprache kam? Das fände ich sehr spannend! Hoffentlich liest Du dies noch - würde mich sehr über eine Antwort von Dir freuen!!