Bisher waren wir ein eingespieltes Team. Bin die dritte von vier Kindern, habe zwei ältere Brüder, eine jüngere Schwester. Seit ich denken kann hatte ich die Elternrolle, sogar meinen Eltern gegenüber. Mein ältester Bruder hat sich von jeher aus allem raus gehalten. Auch als mein Vater vor sieben Jahren starb, hat er sich nicht als ältester Sohn gezeigt. Ich musste alles managen zusammen mit meiner Mutter. Wir haben unseren Vater in den letzten Wochen begleitet. Meine jüngere Schwester hatte immer so große Probleme, dass sie als Trösterin für meine Mutter nie in Frage kam.
Mein zweitältester Bruder ist ganz leicht behindert und könnte viel erwachsener sein. Aber er hat sich auf die Rolle des ewig zu betüdelnden fixiert. Er hat eine chronische Nehmerhaltung eingenommen.
Fazit: Meine drei Geschwister sind die Sorgenkinder meiner Mutter, meine Mutter ist meins.
Ich bin seit einer knappen Woche bei meiner Mutter, und es fehlt nur noch, dass sie mich fragt, was sie morgens anziehen soll. Sie ist 74, geistig wach und fit, hat schon ein paar Probleme am Hals, aber sonst ist sie noch sehr rüstig. Aber ich musste sie seit jeher "retten". Bisher habe ich mich in der Rolle noch ganz o.k. gefühlt. Dieses Mal bei meinem Besuch (wir wohnen 400 km auseinander- mittlerweile kapiere ich erst, wieso ich mich nicht traue, in meine Heimat zurück zu kehren.) ist es plötzlich anders.
Ich ertrage ihre Stimme nicht mehr, die Art, wie sie alles auch per Tonfall dramatisiert. Wie sie mir alles mit einem Nachdruck erzählt, was ich selbst schon weiß oder von ihr erfahren habe- sie hat eigentlich keine Gedächtnisprobleme, wiederholt nur alles mit Nachdruck. In dieser Woche gab es kaum je eine Minute, in der sie mich nicht in irgendeiner Form in Anspruch nehmen wollte. Morgens am Frühstückstisch drängt sie mir gleich ihre Gedanken auf, ihre Träume, und dies wieder mit diesem Nachdruck und so einem heischen nach Bestätigung, Lob und Aufmerksamkeit. Sie fragt mich permanent, will Bestätigung, fragt mich, was sie ihrer Freundin zum Geburtstag schenken soll, ob sie dies und jenes tun soll, sie erzählt und redet, macht Stress und man kommt nicht zu einer Entspannung. Beim Fernsehen sehen wir gemeinsam zum ersten Mal einen Film, sie fragt mich dann dauernd Sachen dazu, die ich doch auch nicht weiß. Bei jeder Autofahrt werde ich zugeredet, muss dauernd mit dem Kopf nicken, ich bin erschöpft. Anders bei den anderen:
Da wird gefragt:"Hast du gut geschlafen?" Na, du Lieber....
Da ist sie in der Retterrolle, und befragt mich, wie man meine Geschwister retten könnte. Da ich sehr intuitiv bin, soll ich dann mal in mich reinhorchen, wie es meinem älteren Bruder gerade geht. Wenn ich mich genervt vor den PC ins Gästezimmer zurückziehe, dann klopft sie laut und wartet nicht ab- schwups steht sie im Zimmer.
Im Restaurant schnapp ich mir kurz die Zeitung. Kaum hab ich die in der Hand, nimmt sie sich einen Teil weg, ohne mich zu fragen. Ich kann kaum noch mit ihr in einem Raum sitzen, allein schon ihr Schmatzen beim Essen ist für mich schwer zu ertragen, das ist nicht altersbedingt, daran liegt es nicht. Sie ist so in ihrem Stress-Ding, dass sie nichts mehr merkt. Neulich hat sie mich mit Enteiser-Spray vollgesprüht, weil sie einfach nicht drauf geachtet hat, wohin sie sprüht. Ich "Vorsicht, du spritzt mich ja voll!"
Sie: !"Wenn du im Weg stehst..." Ich sagte: "Entschuldige bitte, aber ich stand eigentlich weit genug weg, aber du hast nicht drauf geachtet....wie wärs mit "oh, tschuldigung." Sie: "Mein Gott, was du erwartest, so eine empfindliche Zicke habe ich ja noch nie erlebt außer bei dir. "Wenn sie Schubladen aufreisst, dann ist das ein Höllenlärm, weil sie einfach ihren Stress in Grobmotorik umwandelt.
Ich bin mir dessen bewußt, dass sich das jetzt grausam anhört,wie ich über meine Mutter schreibe. Das hier soll kein selbstgerechtes Gejammer werden, ich hoffe, ihr versteht, worauf ich hinaus will. Ich bin wirklich erschöpft, konnte das früher besser "leisten", die rettende Tochter zu sein. Ich bin es so leid. Auch das Verhalten meiner Geschwister ist einfach mir gegenüber nicht o.k. Bisher ist mir das gar nicht so aufgefallen, jetzt plötzlich schnall ich erst, dass sie- vielleicht unabsichtlich- auf meine Kosten sich bei meiner Mutter anlehnen. Meine Mutter ist gerade umgezogen in ein Nachbarstädtchen. Das alte Familienhaus steht zum Verkauf. Ich fahre mit ihr in dieses Haus, bringe es in Ordnung, säubere es mit ihr, sie fragt mich um Rat. Beurteile den Internet-Auftritt des Hauses. Mein Bruder- der ist älter als ich - hat - obwohl er nicht weit weg wohnt, noch nie!!!! seine Hilfe angeboten. Wenn meine Mutter ihn was fragt, tut er so, als ginge ihn das nichts an. Ich habe ihm das neulich gesagt. Natürlich hatte ich gleich Schuldgefühle, weil ich ihm sowas Unangenehmes sage. Ich hab s aber so stehen lassen. Eine ganz neue Erfahrung für mich. Dem anderen Bruder habe ich auch mal gesagt, wie ich mich fühle, wenn ich die einzige Helferin meiner Mutter bin, während er einen auf Riesenbaby macht. Er fiel aus allen Wolken. Ich habe eine Bitte an Euch: Bitte verurteilt das hier nicht, denn ich habe zum ersten Mal diese Wut und Aggressionen auf meine Mutter und meine Geschwister. Vorher habe ich das jahrzentelang selbstverständlich ertragen. Über Euren Rat und Euer wohlwollendes Feedback würde ich mich sehr freuen. Danke für Eure Geduld, diesen langen Text zu lesen.