Wo fange ich nur an, diese unglaubliche Geschichte zu erzählen?
Also mal kurz die Rahmenbedingungen dieses Dramas: mein Mann (33) und ich (29) sind seit vier Jahren verheiratet, wir kennen uns noch weitaus länger. Unsere Beziehung würde ich als glücklich bezeichnen. Wir sind beide studiert, berufstätig und haben keine Kinder, wir wünschen uns auch keine. Ich stamme aus einer Scheidungsfamilie und habe aufgrund schwerwiegender Differenzen zwischen meinen Eltern, die immer wieder zu verletzenden Szenen führen, seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr zu diesen. Die Eltern meines Mannes, meine Schwiegereltern also, sind schon verstorben. Von den restlichen Mitgliedern seiner Familie, die grossenteils in einem anderen Bundesland (städt. Ballungsgebiet) leben, sind wir eher distanziert. Nur sein Bruder und dessen vierköpfige Familie nebst der Schwester seiner verstorbenen Mutter leben in der Nähe.
Alles in allem würde ich die "Familienbande" meines Mannes als entspannt bezeichnen. Es gibt keine offen zutage tretenden Differenzen und ich bemühe mich auch, tolerant zu sein, wenn Werte nicht übereinstimmen. Ich bin ja auch der Meinung, dass man als zivilisierter Mensch so ziemlich mit jedem gut auskommen kann, zumal es ja nicht für die Ewigkeit sein soll ;).
Jedoch die Familienfeiern sind eine Tortur! Der Grund ist immer derselbe: der Neffe meines Mannes (3) führt sich auf wie ein Affe. Ich habe noch nie ein so derart ungezogenes Kind erlebt. Er schreit permanent in den höchsten Tönen, rennt um die Tische herum, isst mit offenem Mund, bekleckert sich vorsätzlich über das ganze Gesicht, boxt andere Kinder, geht an alle Schränke und Türen,...und die lieben Eltern sind natürlich entzückt von ihrem Superkind. Wobei ich den Eltern ja noch eine gewisse paternelle BLindheit zugestehen würde, denn bekanntlich sind Eltern ja oft übertolerant, was ich aber für völlig unangemessen halte in diesem Fall. Es kommt jedoch noch schlimmer: je übler sich der kleine Bursche aufführt, umso mehr Aufmerksamkeit ernet er nicht nur von den Eltern, sondern von der GANZEN Familie meines Mannes.
Ich krieg da den Föhn, wenn ich erlebe, wie zwanzig Erwachsene fast andachtsvoll um ein verhaltensauffälliges Kind herumstehen, das gerade mit offenem Mund, Schokolade aus demselben tropfen lassend, mit der Gabel in den Tisch hackt und dem rechts von ihm stehenden Onkel höhnisch lachend ein Weinglas ans Sakko kippt. Zu meiner Kindheitszeit wäre ein solches Benehmen völlig (!) undenkbar gewesen. Ich kannte auch nie ein Kind, das sich so aufführt, und noch weniger Erwachsene, die solches Benehmen geradezu sozial verstätrken durch ihre positive Aufmerksamkeit. Keiner bestraft ihn, keiner unterbindet sein Verhalten, nein, alle sind geradezu begeistert und betüddeln ihn bis zum Äussersten. Wenn ich dann als einzige äussere, dass es mit drei Jahren sicher nicht spät ist, um manierlich essen zu lernen, und dass mal Grenzen gesetzt werden müssen, werde ich angegiftet, als sei ich die Hexe beim Inquisitionstribunal.
Das absurde Theater (oder auch: Tanz ums goldene Kalb) nimmt inzwischen sogar Hetzjagdformen an. Nachdem ich einmal bei einem Besuch bei der Schwägerin beiläufig äusserte, dass eine Tante beim letzten Familienfest Ohrensausen bekam vom dauerhaften Geschrei ihres Kindes - was der Wahrheit entspricht - und dass ihr Kind auch nicht alles aufreissen und kaputtmachen darf, wenn es bei uns ist (was es bereits tat), klingelte die Mutter die Drähte heiss. Bei allen Verwandten und Bekannten hat dann meine Schwägerin, die ja ansonsten immer soviel zu tun hat, stundenlang herum erzählt, was für eine schlechte intolerante Person ich doch sei und dass ich es wage, ihren Goldschatz zu kritisieren. Von Selbstreflexion fehlt natürlich jede Spur. Nun fixiert mich die weibliche, grossenteils ungewollt kinder- und enkellose Verwandtschaft der Familie mit Verachtung, da ich offenbar ein ungeschriebenes Gesetz übertreten und auf soziale Regeln hingewiesen habe, welche normale Kinder in dem Alter lernen.
Allmählich hat das Theater um ein ungezogenes Kind und vor allem die Hysterie, in die offenbar alle Familienmitglieder verfallen, seinen Gipfel erreicht. Ich fange an, diese Familie, die ich anfangs recht positiv sah, als eine Sammlung verblendeter Narren anzusehen. Wenn Feste feiern in diesen Kreisen bedeutet, dass zwanzig Erwachsene nonstop nichts anderes tun als gütig zu beobachten, wie Junior die Tischdecke zerschneidet und seine Gläser ausleert unter lauten Geschrei, dann will ich definitiv an solchen Feiern nicht mehr teilnehmen. Ich bin nämlich nicht die Super-Nanny, und dieses Getue gibt mir nichts. Und wenn ein intelligenter Erwachsener von der "Junta" gehetzt wird, weil er das Recht auf ein störungsfreies Dasein äussert, will ich ebenfalls meine Bande zu dieser Junta lockern. Ich empfinde das alles nicht als normal. Vielleicht fehlt mir der Kontakt mit Kindern, aber ich kann schon eine Verhaltensstörung von einem normalen Benehmen unterscheiden und ein normales Erziehungsverhalten von einem blinden laissez faire. Mein Mann ist indifferent: aber ich empfinde die Situation als unhaltbar.
Quoi faire?