Hallo zusammen
Ich habe eigentlich kein akutes Problem, sondern möchte gerne eure Ansichten zur Situation in meiner Herkunftsfamilie hören. Dazu muss ich etwas ausholen.
Ich bin 38 und habe einen drei Jahre jüngeren Bruder. Dieser war schon als Kind schwierig und hat mit zunehmendem Alter immer grössere Probleme gemacht. Mit 14 hat er ein Mofa geklaut. Kurz darauf wurde bei ihm POS diagnostiziert. Das heisst heute ADHS. Er flippte ständig total aus, liess sich nichts sagen, weder von Eltern noch Lehrern. Mit 16 kam er in ein Heim für schwierige Kinder und fing dort eine Lehre an. Als er 18 wurde, konnte man ihn nicht mehr gegen seinen Willen dort behalten, also brach er die Lehre ab und stürzte noch mehr ab. Zwischenzeitlich war er mal in einer Pflegefamilie, ich weiss aber nicht mehr genau wann.
Er wurde Alkoholiker und Dauerkiffer, hat keinen Job länger als ein paar Wochen oder höchstens Monate behalten. Er bekam halt immer schnell Streit mit anderen Mitarbeitern und Vorgesetzten. Ausserdem ging er einfach nicht zur Arbeit, wenn er morgens keine Lust hatte. Entzüge hat er auch schon gemacht, hat aber nie längerfristig was gebracht.
Vor ein paar Jahren hatte er eine Freundin, die dann (offenbar geplant) schwanger wurde. Sie hat aber noch vor der Geburt eingesehen, dass es mit ihm einfach nicht geht, und ist in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Ich glaube, das Kind hat er nie gesehen. Vor ca. dreieinhalb Jahren lernte er dann seine momentane Freundin kennen. Ich kenne sie nicht, aber sie war damals noch recht jung und muss auch ziemlich naiv sein. Jedenfalls ging mein Bruder dann in den Entzug. Noch während er im Entzug war, wurde sie schwanger. Obwohl es schon bald grosse Probleme gab und auch ab und zu die Polizei ausrücken musste, liess sie sich noch ein zweites Mal schwängern. Die Kinder sind jetzt, soweit ich weiss, zweieinhalb Jahre und halbjährig. Offenbar ist der Ältere auch schon verhaltensauffällig. Vor ca. zwei Wochen musste wieder die Polizei ausrücken... Wenn mein Bruder ausflippt, wird er sehr laut und stösst wüste Beleidigungen und Drohungen aus.
Ich habe übrigens seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.
Mein Bruder und unsere Eltern schieben alles auf das ADHS. Er könne halt nicht anders und basta. Ich weiss, dass niemand etwas dafür kann, dass er ADHS hat. Aber ich weiss auch, wie bei uns zu Hause "erzogen" wurde:
Mein Vater interessierte sich nie wirklich für seine Kinder. Seine Freizeit verbrachte er vor dem Fernseher. Meine Mutter war (und ist es immer noch) unglücklich in der Ehe und wurde von meinem Vater mit der Erziehung allein gelassen. "Erziehung" bestand hauptsächlich aus leeren Androhungen von Strafen wie Hausarrest etc. Umgesetzt wurde das nie. Einmal stahl er meinen Eltern Geld und kaufte sich einen Gameboy (da war er ca. 9). Es hatte keine Konsequenzen. So wie eigentlich nie etwas Konsequenzen hatte. Nachdem mein Bruder mit 14 eben ein Mofa gestohlen hatte, schenkten ihm meine Eltern eines. Schliesslich hatte er nur eines gestohlen, weil er doch so gerne eines gehabt hätte...
Nach der ADHS-Diagnose wurde dann sowieso alles darauf geschoben, egal was er tat. Dann gab es auch immer wieder dieses gleiche Spiel: Mein Bruder versprach etwas (zB sich zu bessern, eine Lehre zu machen, ...), und meine Eltern schenkten ihm etwas dafür, zB einen teuren Roller. Natürlich hielt er seine Versprechen nie. Die Sachen hatte er dann aber und konnte sie auch behalten. Er bekam generell praktisch alles, was er wollte, während bei mir immer aufs Geld geschaut wurde. Wenn ich etwas sagte, war ich die neidische Schwester, die dem Bruder nichts gönnt.
Überhaupt war mein Bruder schon immer das Lieblingskind meiner Mutter, während sie mich emotional vernachlässigte und für Fehlverhalten mit Liebesentzug bestrafte, was sie bei meinem Bruder nie machte. Die Lieblingskindsache soll hier aber nicht Thema sein.
Einmal, da war ich ca. 20 und mein Bruder ca. 17, meinte meine Mutter, dass ja nur Vater und ich Probleme mit meinem Bruder hätten, sie hingegen nicht. Sie meinte also, es läge an uns. Dazu muss ich sagen, dass sie ihm nie etwas verwehrte und ihn nie kritisierte. Sie nahm ihn auch immer in Schutz. Wenn er Probleme mit Lehrern, Vorgesetzten etc. hatte, waren die schuld. Wenn ich Streit mit ihm hatte, dann hatte ich ihn provoziert. Ein paar Jahre später fand ich meine Mutter völlig aufgelöst vor. Mein Bruder hatte Geld verlangt, und sie hatte gewagt, ihn zu fragen, wieso er denn sein eigenes schon ausgegeben hatte. Da war er völlig ausgetickt und hatte sie aufs Übelste beschimpft. So viel zu keine Probleme...
Seit mein Bruder erwachsen ist, ist er die meiste Zeit arbeitslos. Zwar hat er immer mal wieder einen Job, aber eben nie lange. Finanzieren lässt er sich dann von unseren Eltern, die immer bedingungslos geben. Seine kleine Familie lebt mietfrei in der grossen Eigentumswohnung unserer Eltern und wird grosszügig finanziell unterstützt. Als ich das herausfand und hinterfragte, hiess es wieder, er habe halt ADHS...
Er nimmt übrigens kein Ritalin, dafür kifft er täglich. Und saufen tut er natürlich auch immer noch.
So, meine Frage an euch lautet nun: Kann man wirklich alles mit ADHS entschuldigen? Ich weiss, dass bei ADHS die Impulskontrolle gestört ist, und dass es unterschiedlich starke Ausprägungen gibt. Aber kann man Kindern und Erwachsenen wirklich keinerlei Grenzen setzen, wenn sie ADHS haben? Ich habe ja erlebt, wie mein Bruder "erzogen" wurde: keine Konsequenzen, keine Grenzen (zu mir war meine Mutter übrigens viel strenger). Schuld sind immer andere. Meiner Meinung nach suchte mein Bruder als Kind/Teenager schon fast verzweifelt nach diesen Grenzen.
Habt ihr Erfahrungen diesbezüglich?