Auseinandersetzten und Entscheidungen treffen.
Liebe Jolly.
Ich kann dir nur raten, dich schlau zu lesen und dich mit dem Thema auseinanderzusetzen, was du wahrscheinlich selbstverständlich tust. Schlussendlich wirst du dich sicher richtig entscheiden.
Ich fasse für dich gerne meine Erfahrungen zusammen, vielleicht kannst du dich ein Stück weit identifizieren.
Ich habe vor ca. einem halben Jahr die Diagnose ADS erhalten. Ich werde dieses Jahr 27 und ich habe viele Jahre schlussendlich wichtige Dinge nicht auf die Reihe bekommen (z.B. 2 Schuljahre wiederholt, 2 Ausbildungen abgebrochen, Stimmungsschwankungen von Euphorie bis depressiven Selbstmordabsichten...). Daher war ich offen für die Medis, ich habe genug Erfahrung ohne sie gemacht und mein Lebensstil war für mich selbst, für Familie, Freunde und Partner stets "abwechslungsreich", v.a. anstrengend auf Dauer um es milde auszudücken. Wahrscheinlich trifft "Fiasko", "Katastrophe an Katastrophe" eher zu.
Eigentlich habe ich keine andere Option mehr gesehen, habe mir auch illegal Antidepressiva (u.v.m.) besorgt und war verzweifelt, als ich zum fünften Mal einen neuen Therapeuten suchte. Damals gab ich mir noch eine letzte Chance, sozusagen.
Rückblickend waren die Gesprächstherapien der letzten 16 Jahren sicher nicht erfolglos. Aber dieser Psychiater, der ADS bei mir feststellte, hat mich von Anfang an ernst genommen, zum ersten Mal traf ich auf jemanden, der nachempfinden konnte, wie es mir all die Jahre ging. Ich erkannte auf einmal all diese Tricks, wie ich mit gewissen ADS-Symptomen umging, von meiner Ordnungsstrategie bis zur Selbstmedikation. Mein Therapeut überlässt es eigentlich mir selbst, wann und wieviel Medikamente ich nehme, schlisslich kann er mich ja nur beraten und nicht zwingen, bzw er ist ja sozusagen von mir "angestellt". Ausserdem spürt man selbst, ob und was es bringt und niemand sonst. Im übrigen habe ich mich intensiv mit den Wirkstoffen auseinandergesetzt. Aber ich vertraue seinen Ratschlägen und Kenntnissen sehr.
Dazu musst du wissen, dass Medikamentenstudien und ihre Wirkungsmechanismen ausschliesslich an Männern getestet wurden. Die hormonellen Schwankungen der Frauen machen das Auswerten einer Studie viel zu kompliziert. Auch die Einstufungsfragebögen sind aus Erfahrungen vor allem mit Jungs erstellt worden, da ADS bis vor ein paar Jahren noch das "Zappelphillipsyndrom" war und die erste Langzeitstudie erst 2004 veröffentlicht wurde. Was auch heisst, dass ADS bei Erwachsenen erst seit kurzem anerkannt ist.
Auch bei mir treffen die diagnostisch relevanten Symptome nur ganz, teilweise, oder überhaupt nicht zu. Einige ADS-Symptomen hatte ich als Kind und jetzt nicht mehr, da ich Strategien entwickelte damit umzugehen. Ausserdem vermute ich, dass mein Vater auch ein ADS hatte, und zur Zeit überprüfe ich insgeheim auch meine Mom. ADS bekommt man vererbt und ich vermute, dass bereits in der Familie eine gewisse Toleranz gegenüber "ADS-Schwächen" besteht. Bei uns zum Beispiel hat die ganze Familie ständig morgens verschlafen und alle kamen morgens regelmässig zu spät. Im Gymnasium hatte ich über 100 Std. Arrest abzuarbeiten wegen summierten Verspätungen und Lapalien. Trotzdem waren meine Eltern in ihren akademischen Berufen erfolgreich.
Zu dir meine ich, du kannst die Medis auch nur mal ausprobieren, vielleicht findest du die Wirkung unangenehm, vielleicht aber auch befreiend. Das kannst nur du selbst für dich herausfinden.
Nach einem halben Jahr mit Medis kann ich auf Erfolge zurückblicken, welche ich sonst nicht gehabt hätte und dennoch bin ich kein anderer Mensch. Ich fühle mich nicht anders als vorher, nur ausgeglichener und habe weniger Probleme. Auch fühle ich mich nicht mehr so schuldig an all dem was ich verbockt habe, denn es lag weder an meinem Willen noch an meinen Fähigkeiten und das entlastet mich sehr.
Mein Freund ist erfreut, dass endlich etwas Ruhe in unsere Beziehung eingekehrt ist und nicht wie früher ständig neue Probleme und Dramen auftauchen. Familie und Freunde müssen dem "Ich-das-ich-sein-will-ich" erst noch mehr trauen, aber sie stellen langsam fest, dass ich verlässlicher, zielstrebiger und ausgeglichener bin.
In punkto Studium habe ich den grössten Erfolg. Im Vergleich zu früher hat sich enorm viel getan. Ich kann lernen weil und wenn ich muss und nicht nur wenn ich grad meinen "Drive" habe. Ich habe keine Depressionen mehr und bin täglich pünktlich.
Trotzdem ist damit noch nicht alles gelöst aber ich kann Probleme viel lösungsorientierter angehen und gestatte mir Zeit und Raum zum trödeln, träumen, impulsiv und expressiv abzuschweifen aber behalte meist den "roten Faden" im Auge.
Es wird mir bewusst, was ich brauche und kann darauf auch besser eingehen.
Meine Lebensqualität hat sich dank den Medikamenten sehr gesteigert, ich fühle mich fähig jetzt Ziele zu erreichen, die weiter weg sind.
Ich kann dir auch zum Lesen wärmstens zwei Bücher empfehlen:
von Doris Ryffel-Rawak
"ADHS bei Frauen - den Gefühlen ausgeliefert"
Hans Huber Verlag
darin geht es um Patientinnenberichte. Mir hat das Vergleichen von Erfahrungen anderer Frauen mit meinen eigenen sehr gut getan und bin seither auch überzeugt von meiner Diagnose. Ausserdem bemerkte ich auch Vorteile am ADS. Ich sehe gewisse Charaktereigenschaften nun als bestätigte Gabe und nicht nur als Einbildung.
von Johanna Krause und Klaus-Henning Krause
"ADHS im Erwachsenenalter"
2. Auflage, Schattauer Verlag
Das ist DAS ADHS-Buch für Erwachsene. Allerdings ist es Fachlitheratur für Psychotherapeuten und Ärzte und nicht zu empfehlen, wenn man nicht entweder etwas medizinisches studiert, so dass terminologisches und biochemisches Basiswissen vorhanden ist, oder aber man ist sehr ehrgeizig und betreibt nebenbei aufwändige Recherche.
Ich habe auch viel gutes über das Buch "Chaosprinzessin" gelesen, das kenne ich selbst jedoch nicht.
Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg und hoffe, dass der Vergleich mit anderen ADS - Bertroffenen dir auch Halt und Verständnis gibt.
ADS - Betoffene haben auch "Gaben", die sehr positiv sind. Meiner Begeisterungsfähigkeit, meinem Ideenreichtum und meiner Impulsiven Umsetzungskraft ist es zu verdanken, dass ich einzigartig und bewundernswert bin.
Ich bin sicher, dass du auch Fähigkeiten hast, die dich vorteilhaft von anderen abheben.
Liebe Grüsse.